Haus im Nadelstreif
Bauen in historisch gewachsenen, geschlossenen Ensembles ist eine der größten Herausforderungen für die heutige Architektur. Wie lassen sich in einer solchen Umgebung moderne Akzente setzen, die sich harmonisch in das Gesamtbild einfügen? Mit dem Neubau eines Mehrfamilienhauses in der Altstadt von Memmingen gibt Architekt Matthias Loebermann eine Antwort auf diese Frage: Durch eine mutige Gestaltung, die in den Dialog mit ihrem Umfeld tritt und Verbindungslinien knüpft, dabei aber konsequent auf ihrer Eigenständigkeit beharrt.
Wer durch die Altstadt der schwäbischen Kleinstadt Memmingen flaniert, unternimmt einen Spaziergang durch die Geschichte. Er geht an mittelalterlichen Gebäuden vorbei, an barocken Bürgerhäusern und wuchtigen Gründerzeit-Bauten. Und sieht dazwischen auch viel funktionale Bausubstanz, mit der in den Nachkriegsjahren jene Lücken gefüllt wurden, die die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs geschlagen hatten. Funktionalen Charakter besitzt auch ein Gebäudeensemble, das im Herzen der Memminger Altstadt einen Innenhof umschließt, in dessen Mitte sich die Abfahrt zu einer Tiefgarage befindet. Eben diese Tiefgaragenabfahrt stand als Grundfläche für den Bau eines Mehrfamilienhauses zur Verfügung – zentral, freistehend und von allen Seiten dem Blick aus den umliegenden Häusern ausgesetzt. Der Architekt Matthias Loebermann reagierte auf diese exponierte Position mit einem selbstbewussten Entwurf: Er gestaltete den Neubau als schlanken Solitär im eleganten Nadelstreif, der selbstbewusst die Bühne betritt, die sich ihm bietet.
Im Dialog
Matthias Loebermann ist Künstler und Architekt, Praktiker und Philosoph der Architektur. Eines seiner Credos lautet: „Architektur ist immer für den Ort gemacht.“ Mit seinem zusammen mit Gunther Schmitt und Fabian Getto 2019 in Nürnberg gegründeten Büro Schmitt Loebermann Getto Architekten überführt er diese Überzeugung nahtlos in die Realität. Das von ihm entworfene Mehrfamilienhaus tritt in einen offenen Dialog mit seiner Umgebung. Es zeigt dabei Mut zum Widerspruch – den hellen Putz-Fassaden der umliegenden Häuser setzt es dunkel lasiertes Holz entgegen, den wuchtigen, gedrungenen Strukturen eine schlanke Gestalt –, aber bietet auch Anknüpfungspunkte. So fügt sich das steile, dunkle Satteldach nahtlos in die umliegende Dachlandschaft ein, und die geschoßweise Staffelung der Fassade, die von Stockwerk zu Stockwerk weiter nach außen ragt, kann als Zitat der Geschoßgesimse betrachtet werden, die an vielen Memminger Altstadthäusern zu sehen sind.
Farbe & Geometrie
Tiefe und Mehrdimensionalität sind wesentliche Gestaltungsprinzipien in der Arbeit von Matthias Loebermann. „Seine Architekturen sind in ihre Umgebung eingefügte Objekte aus geraden Linien und Licht“, schreibt der Fotograf und Autor Peter-Cornell Richter. Für den Neubau in Memmingen übertrug Loebermann die Anmutung einer schraffierten Bleistiftzeichnung in die Materialität einer mehrschichtigen Fassade: An einer weißen, diagonalen Unterkonstruktion wurden tief dunkelgraue, vertikale Holzbretter angebracht. Die Lasur Lignovit Platin sorgt an den Brettern aus sägerauer Fichte nicht nur für einen satten, gleichmäßigen Farbton, sondern verleiht der Oberfläche durch spezielle Effektpigmente auch einen metallischen Schimmer. Einen zusätzlichen Reiz erhält diese Gestaltung durch die unterschiedliche Breite der Bretter: Je weiter der Blick nach oben wandert, desto breiter werden sie und desto schmäler die Lücken, durch die die helle Unterkonstruktion hindurchscheint – die Fassade verschließt sich stetig. Im Spiel von Farbe und Geometrie, von Licht und Schatten entsteht so eine dynamische Optik, die sich mit dem Betrachtungswinkel verändert und dem Bau eine schillernde und dabei zurückhaltende Eleganz verleiht – wie ein Bühnenstar, dessen Nadelstreif-Anzug im Scheinwerferlicht glänzt.
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